… und Sterben nur Gewinn.
Der Pfarrer der Stadtkirche Mühldorf am Inn, Roland Haimerl, verstarb im April 2023. Ein Nachruf.
Als Pfarrer Roland Haimerl im April 2023 verstorben war, berichteten die Lokalzeitungen vor allem über seine Krankheit, den Leidensweg, den er viele Jahre gegangen war, und den verlorenen Kampf gegen seine lange nicht diagnostizierte Krebserkrankung. Bei dem Requiem in der Mühldorfer Stadtpfarrkirche wiederholte sich das: sowohl der Zelebrant, Seine Exzellenz Wolfgang Bischof, als auch der Landrat, der Bürgermeister, die evangelische Pfarrerin sprachen über eben dies, seine Krankheit, der er schließlich unterlag.
Jeden, der Roland Haimerl kannte, musste dies ein wenig verwundern. Denn obwohl die Tatsache, dass er krank war und eine schwere Behinderung hatte, nie verschwiegen wurde und subkutan immer da war, sah man, wenn man ihn ansah, in seinem Blick, in seinen Augen, nie den Kranken. Man sah den Lebensfrohen, den Lustigen. Selbst im Rollstuhl, auf den er sich gerade in seinen letzten Lebensjahren immer öfter verlassen musste, lächelte er einem entgegen und zwar mit einer freimütigen Herzlichkeit, der man nur selten begegnet. Man sah einen Mann, der sich nicht von seiner Krankheit und Behinderung besiegen ließ, sondern sie schlicht nicht beachtete.
Es war dies sicher auch seine größte Schwäche. Denn trotz all der Lebensfreude, die er immer wieder aufs Neue zeigte, schien er sich bis kurz vor seinem Lebensende nicht gewahr zu sein, dass seine Behinderung mehr und mehr der Erfüllung seiner Aufgabe im Wege stand. Die Herde, die ihm der Herr und sein Bischof zu weiden anvertraut hatte, hätte oft einen starken Hirten gebraucht – und dieser Rolle konnte er zu oft nicht mehr gerecht werden. Umso mehr hätten sich die, die sich ehren- und hauptamtlich in der Stadtkirche engagieren, nach einem weisenden Wort aus München gesehnt, doch aus München kam meist nur Schweigen.
Zu seinem Requiem kamen viele. Freunde, alte Bekannte, Kollegen, Mitbrüder. Junge und Alte. Viele, von denen selbst die, die Roland gut kannten, nicht gerechnet hätten, dass sie kommen. Man kann das fragwürdig finden – im Tod kommen die, die sich im Leben nicht für ihn interessiert haben – man kann es aber auch positiver werten: es nehmen selbst die Abschied von ihm, die ihn aus den Augen verloren hatten. Wie auch immer man es sehen mag, es ergab ein bewegendes Bild, als fast zwei Dutzend Geistliche und ungefähr fünfzig Ministranten durch eine Nikolauskirche zogen, die seit Jahren nicht mehr so voll war; die auf einen schlichten Sarg zugingen, auf dem eine Stola lag und ein Kelch stand. Im Inneren dieses Sarges lag der Körper von Roland Haimerl. Es war Osterzeit und so stand vor der Retabel des Hochaltares eine Statue des auferstandenen Christus. Unten der Sarg, oben der Auferstandene, verbunden wie durch eine Linie oder einen nach oben weisenden Pfeil durch die brennende, wenige Tage zuvor gesegnete Osterkerze. Ein Bild des Triumphes, nicht nur über Leid und Krankheit, sondern über den Tod. Wie der Körper des Erlösers am dritten Tage auferstand, so glaubt die Christenheit, erstehen am Ende aller Zeiten die verklärten Leiber der Erlösten. Wie der Gekreuzigte in seiner Auferstehung alle Sünde getilgt hat, so hat er auch alles Leiden in Freude verwandelt.
Unten der Sarg, oben der Auferstandene, verbunden wie durch eine Linie oder einen nach oben weisenden Pfeil durch die brennende, wenige Tage zuvor gesegnete Osterkerze.
Am Ende seines Requiems trat Rolands engster Vertrauter an das Mikrofon, an dem dieser jeden Sonntag die Fürbitten gelesen hatte, nachdem Roland sie mit einer Gebetseinladung eingeleitet hatte. Er verlas jene Worte, die Roland auf seinem Sterbebett diktiert hatte. Nur wenige kannten sie. Der Bischof leitete sie ein, der Gravitas dieses Momentes Ausdruck verleihend. Die Worte, die er seiner Trauergemeinde mitgeben wollte, waren knapp, kurz und bündig: „Ich bedanke mich für die Gestaltung des Gottesdienstes und wünsche Ihnen allen eine gesegnete Zukunft. Ihr Roland Haimerl“. Und so verabschiedete sich Roland: unaufgeregt, einfach. Die ganze Heilige Messe sprach von dieser Einfachheit; und doch spürte man die Tiefe, die zu Lebzeiten auch hinter Rolands lächelndem Antlitz lag – eine Tiefe, die oft auch unergründlich schien.
Roland war ein Pfarrer, durch und durch. Einer mit Humor, der sich selbst nicht zu ernst nahm. Der sich getragen wusste von seinem Auftrag und dem, der ihn erteilt hatte. Einmal erzählte er die Geschichte, wie er früh in seiner Kaplanzeit in Ampfing auf der Suche nach einem günstigen Auto war, das es ihm erlaubte, auch die abgelegen wohnenden Mitglieder der Pfarrei besuchen zu können. Geld hatte er nur wenig und so waren seine Erwartungen an ein Auto auch eher bescheiden. Beim Besuch eines Ampfinger Autohauses fiel sein Blick auf einen winzigen, fast schon würfelförmigen asiatischen Geländewagen, dessen greller Lack mit bunten, großen Punkten übersäht war. Auf die Frage, ob er den Wagen möglicherweise günstig kaufen könne, entgegnete ihm der Besitzer des Autohauses mit einem mitleidigen Blick auf den jungen Kaplan, er könne ihn umsonst haben. Mit diesem „Clownsauto“, wie er es selbst bezeichnete, fuhr er dann durch das Ampfinger Pfarrgebiet, brachte den Alten die Kommunion, Kranken die Salbung, besuchte Familien, segnete Häuser – war, mit einem Wort, Seelsorger.
Später wurde er Pfarrer in dem Ort, in dem er sein priesterliches Leben begonnen hatte, dann Dekan und war als solcher beteiligt am Aufbau der Stadtkirche Mühldorf, deren Pfarrer er wiederum später werden sollte. Das Modell der Großpfarrei, in der viele Gemeinden in einem großen Verband zusammenwirken, war damals ein Novum, nun ist es fast schon gang und gäbe. Nicht wenige junge Männer motivierte er zum Priestertum oder zumindest zum Theologiestudium. Kapläne und Pastoralpraktikanten gingen bei ihm in Ausbildung. Als Richter am erzbischöflichen Offizialat entschied er über Eheannulierungen. Es spricht Bände, dass Roland als Student nicht ein einziges Mal in einer kirchenrechtlichen Vorlesung war – das Kirchengericht war für ihn auch kein Ort blinder Rechtsprechung, sondern angewandter Pastoral. Die Kirche musste den Menschen dienen, nicht umgekehrt. Diesem Credo folgend gestaltete er seine Arbeit, mit lockerer Hand leitete er die sechs Pfarreien der Stadtkirche Mühldorf, zeitweise ergänzt durch die Pfarreien Tögings und Erhartings. Sein Führungsstil war Laissez-Faire. Davon hätte es, zugegebenermaßen, oftmals weniger gebraucht, dafür mehr Präsenz als Leiter. Aber er war eben kein Manager, sondern ein Pfarrer, der vieles auch einfach seinen Gang gehen lassen konnte, ohne sich einzumischen. Und eigentlich muss man es tragisch finden, dass die Zeiten und Anforderungen sich so geändert hatten, dass oftmals eben das von Nöten gewesen wäre: ein Manager.
In der Lesung des Requiems aus dem Buch Kohelet hieß es, alles habe seine Zeit, es gebe eben auch „eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben“ (Koh 3,2). Dass Rolands Zeit bereits so früh zu Ende sein musste, war für viele ein Schock. Er selbst schien es bereits hingenommen zu haben, wie er immer alles hingenommen zu haben schien, was ihm das Leben geboten hatte. Dass sein Trauergottesdienst auf seinen Wunsch hin ein Auferstehungsgottesdienst war, zeigt seinen tiefen Glauben daran, dass sein Leben geborgen war in der Hand Gottes, in die er sich eingeschrieben hatte. „Denn Christus ist das Leben und Sterben nur Gewinn“, heißt es in dem Lied, das am Ende von Rolands Requiem gesungen wurde. Und weiter: „wir tragen dir zum Throne des Lobes Gaben hin, weil du in deinem Sohne uns schon den Sieg verliehen“. Dass im Tod Triumph liegt und im Sterben nur Gewinn, entspricht nicht der Geschichte vom verlorenen Kampf gegen eine Krankheit. Roland hat keinen Kampf verloren. Sein Sterben war keine Niederlage, sondern der Triumph des ewigen Lebens, an dem der Auferstandene auch seinen treuen Diener Roland wird teilhaben lassen.
Fotos: © Kornelia Schneider